Der Twitter-Effekt
Es tut sich was. Für viele ist es noch nicht sichtbar, für einige dagegen schon. Die Formen der Berichterstattung durch Medien haben Konkurrenz bekommen. Täglich werden Mitteilungen über social networks verschickt, und das Bedürfnis an aktuelleren Informationen und Hintergrundinformationen steigt. Die Möglichkeit, durch aktives Fragen direkt an diesem Kommunikationsprozeß teilzunehmen, hat eine komplett neue Form der Massenkommunikation geschaffen. Jeder ist Sender und Empfänger, Länder- und Kulturgrenzen überschreitend, ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten. Dies ist einer der gravierenden Unterschiede. Ein anderer Unterschied zu herkömmlicher Kommunikationsverbreitung ist die Kommunikation in Echtzeit – live. Die Auswirkungen dieser neuen Kommunikationsform lassen sich allenfalls im Ansatz erahnen. Microbloggingdienste wie Twitter sind nicht ein neues Medium, sie repräsentieren ein komplett anderes Konzept der Kommunikation.
Die Schnelligkeit, mit der sich Teilnehmer der großen digitalen social networks zu bestimmten Themen informieren und austauschen, kann durch etablierte Medien nicht mehr an Schnelligkeit übertroffen werden. Man stelle sich diese Umwälzung einmal bildlich vor: ein direkt veröffentlichter Leserbrief zu einem Thema, welcher „unzensiert“ auf tiefer recherchierte Fakten verweist, welche man sofort abrufen kann, welche durch Nachfragen direkt beantwortet werden. Die „Auflage„, also die Reichweite bestimmter social network Mitglieder ist enorm. So hat Barack Obama zum Beispiel durch Twitter die Möglichkeit, seine an politischen Entscheidungsprozessen interessierten Menschen per Twitter sofort und live über Wichtiges zu unterrichten. Diese interessierten Mitglieder haben sich alle persönlich und aktiv dafür entschieden, diese Nachrichten von Barack Obama zu bekommen. Im Wahlkampf intensiv genutzt, führte die Nutzung dieses neuen Konzeptes der Kommunikation zu seiner Wahl als US-Präsident. Seine Nachrichten werden an ca. 1,4 Mio. Menschen gesendet, und er bekommt Rückmeldungen von ca. 774 tausend Menschen (Stand: 30.06.09, 09:30 Uhr). Eine Meldung hat beispielsweise folgenden Inhalt:
„1 in 5 Americans with HIV doesn’t know it. Please share this National HIV Testing Day video: http://bit.ly/8h7p1 #NHTD0910:02 PM Jun 27th from web“.
Die virale Verbreitung dieser Information über die ganze Welt und das Land, die sie betrifft, wird von großen Teilen seiner 1,4 Millionen Sender übernommen, in alle Bereiche der unterschiedlichsten Gesellschaften. Der Begriff „viral“ ist in diesem Zusammenhang für mich wertneutral und dient nur zur neutralen Beschreibung eines kommunikativen Verbreitungsprozesses.
Durch die Auswahlmöglichkeit der Themen bestimmt das Social Network die Themengewichtung, quasi eine unglaublich große Redaktion, die auf sehr viele recherchierende Mitarbeiter zurückgreifen kann. Dies ist leicht messbar an den gesendeten Mitteilungen bzw. an den Nachfragen. Ein zutiefst demokratischer Prozeß, da erstmals die Masse der Interessenten die Gewichtung des aktuellen Geschehens bewertet. Verdeutlichen möchte ich das mit einem 1:34 min langen Film, welcher die Steigerung der Twitter-Aufrufe zum Tode Michaels Jacksons als Inhalt hat (vgl. unter anderem: Ossi Urchs’s Blog, Das „Echtzeit-Web“ und die Zukunft des Journalismus)
Hier sieht man sehr deutlich die explosionsartige, virale Verbreitung dieser Nachricht durch das massige, massive Interesse. Welcher Fanclub, Spezialseite etc. hätte in dieser Form, mit dieser Schnelligkeit und in dieser Fülle reagieren, berichten und Antworten geben können?
Zwingender denn je erscheint mir die Bildung von Medienkompetenz, der Fähigkeit, selbst aufgrund von erlerntem Wissen diejenigen Nachrichten/Informationen zu sichten, welche in der unüberblickbaren Informationsflut relevant sind. Dazu ist die zwingende Vorraussetzung des ungehinderten Informationsflusses die Demokratie mir dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht, sich aus öffentlich zugänglichen Quellen zu informieren.
Die Geschichte unterschiedlichster Länder zeigt, daß in Zeiten solcher gravierender Informationsflußänderungen es mehr als wichtig ist, aufzupassen. Zum Beispiel hat Johannes Gutenberg durch die Nutzung des Buchdrucks die massive Verbreitung der Bibel ermöglicht, und Martin Luther hat sie in eine Sprache übersetzt, die auch von denjenigen verstanden wurde, die Latein oder Altgriechisch nicht verstanden. Das Wissen, niedergeschrieben in der Bibel, wurde zum Allgemeingut, führte gleichzeitig aber auch zum Machtverlust der Deutungshoheit damaliger klerikaler Eliten. Die Vorstellung, in unserer heutigen Zeit ohne die Möglichkeit zu sein, in den jeweiligen Büchern der Religionen zu lesen, erscheint absurd, ja unglaublich. „Das Wort Gottes“ Gläubigen zu verweigern, wäre Blasphemie im ursprünglichstem Sinne (altgr. ἡ βλασφημία, τῆς βλασφημίας – blasphêmía – die „Rufschädigung“, zusammengesetzt aus βλάπτειν – bláptein – „Schaden bringen, benachteiligen“ und ἡ φήμη – phếmê oder dorisch ἡ φάμα – pháma – „die Kunde, der Ruf“).
Die Tragweite dieses neuen Konzeptes dieser Kommunikation sollte meiner Meinung nach wesentlich fundierter in einem öffentlichen Diskurs thematisiert werden. Mit allen Vor- und Nachteilen. Durch das intensive Beschäftigen mit diesen neuen und fulminant wichtigen Themen können Zukunftschancen schneller erkannt und sowohl sozialgesellschaftlich als auch wirtschaftlich zum Wohle Aller genutzt werden.